Vor 500 Jahren hat Martin Luther das Neue bzw. Zweite* Testament ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Seine Arbeit hinter den Mauern der Wartburg war eine einzigartige Meisterleistung, die die deutsche Sprache bis heute prägt. Wer sich aber einmal die genaueren Umstände seiner Arbeit ansieht und mit dem Alltag heutiger Übersetzer:innen und Lektor:innen vergleicht, wird auf viele überraschende Parallelen stoßen. Ein paar dieser (nicht immer ganz ernst gemeinten) Analogien stellen wir im Folgenden einmal vor.


Luthers Wartburg-Aufenthalt: eine Blaupause für freiwillige Quarantäne

Martin Luther war 1521 zu seinem eigenen Schutz auf der Wartburg bei Eisenach festgesetzt worden, denn draußen tobte zwar keine Corona-Pandemie, aber der Mob. Weil er sich geweigert hatte, seine Thesen für eine Reformation der katholischen Kirche zu widerrufen, war Luther, der als vogelfrei galt, Straftaten hilflos ausgesetzt.

Auch damals schon bot eine solche Selbstisolation nicht gerade viel Entertainment, daher machte sich Luther mehr oder weniger aus purer Langeweile an eine Neuübersetzung des Neuen Testaments. Und so durchlebte er von Mai 1521 bis März 1522 Freud und Leid des Homeoffice. Als Übersetzer stand er vor gut 500 Jahren ähnlichen Herausforderungen gegenüber, wie sie noch heute prägend für die Sprachdienstleistungsbranche sind. Anstelle von 95 Thesen hier nun 9 Parallelen zwischen dem Kirchenreformer vor 500 Jahren und den Textarbeiter:innen unserer Zeit.

1) Nerds bevorzugt: Nachtschichten, Wochenendarbeit, 24/7-Service

Heutzutage könnte man Martin Luther wohl als Nerd bezeichnen. In gerade mal 73 Tagen, also etwa elf Wochen, übersetzte er das komplette Neue Testament. Bei einem ungefähren Gesamtumfang von 169.000 Wörtern entspricht das einem durchschnittlichen Übersetzungspensum von über 2.300 Wörtern pro Tag – fast drei Monate lang. Angesichts des extrem anspruchsvollen Ausgangstextes und des bahnbrechenden, transkreativen Übersetzungsergebnisses eine irrsinnige Leistung!

Auch für heutige Übersetzer:innen und Lektor:innen ist eine gewisse Portion Nerdtum von Vorteil. Ihr Alltag besteht darin, innerhalb meist viel zu knapper Timingvorgaben große Textmengen zu bearbeiten. Wer dabei kein hohes Tempo vorlegt, kann sich seine Arbeit auf Dauer schlicht und ergreifend nicht leisten. Während Luther wohl von einem wahren Kreativitätsrausch getrieben war, arbeiten Sprachdienstleister:innen heute unter permanentem Zeitdruck für ihre Auftraggeber und gegen knappe Deadlines. Wörter wie „Feierabend“ und „Wochenende“ kennen sie manchmal nur aus dem Duden. Auf Dauer schafft man das nur, wenn man für eine Sache brennt und mit Begeisterung und Leidenschaft Texte lektoriert oder in eine neue Sprache verpflanzt. So wie Luther.

2) Wer schreibt, der bleibt: Lockdown, Quarantäne und Homeoffice

Das stille Heer freiberuflicher Übersetzer:innen und Lektor:innen musste zu Beginn der Corona-Pandemie immer wieder in sich hineingrinsen: Was in der Arbeitswelt plötzlich als große Sensation gehandelt wurde, nämlich das Arbeiten in Selbstisolation vom Homeoffice aus, kannten sie gar nicht anders. Für moderne Textarbeiter:innen gehört die Arbeit in ihrer eigenen „Lutherstube“ seit jeher zur Normalität – mit all ihren Vorzügen, aber auch Schattenseiten. Corona hat daran nicht viel geändert. Viele Einzelkämpfer:innen kommen mit dem Arbeiten in freiwilliger Quarantäne gut klar, anderen wiederum fällt ohne den persönlichen Austausch mit anderen Menschen ganz schnell die Decke auf den Kopf.

Luther erging es da nicht anders. Er machte dieselben Erfahrungen wie so viele Arbeitnehmer:innen heute, die sich in Zeiten von Lockdown, Quarantäne und Homeoffice plötzlich am heimischen Küchentisch wiederfanden: Enge und vor allem Einsamkeit machten ihm sehr zu schaffen, er vermisste konstruktive Diskussionen und den direkten Kontakt zur Außenwelt. Und so wenig, wie Briefwechsel es damals konnten, erkennt man auch heute, dass Videokonferenzen keinen adäquaten Ersatz für ein fruchtbares, gemeinschaftliches Miteinander mit Kolleg:innen und Geschäftspartner:innen darstellen. Kein Wunder also, dass Luther die erstbeste Gelegenheit nutzte, der Wartburg den Rücken zu kehren und sich wieder unter Menschen zu begeben.

3) Quality makes the difference: Fachexpertise und Sprachkompetenz

Luther war Experte auf seinem Gebiet – er kannte den Kanon religiöser Schriften, war fest in der Tradition der Kirche verankert und beherrschte sowohl Ausgangs- als auch Zielsprache aus dem Effeff. Zudem war er gut vernetzt und tauschte sich mit anderen Fachleuten aus. Kurz: Er war nicht nur fachlich ein Profi, sondern auch ein erfahrener Übersetzer, der messerscharf formulieren konnte.

Diese Mischung ist bis heute das Rezept für professionelle Übersetzungen. Egal, ob Texte für den Kapitalmarkt, die Energiewirtschaft, für Medizin/Pharma oder die Automobilindustrie: Sie verlangen nach Spezialist:innen, die nicht nur das fachliche Rüstzeug mitbringen, sondern auch über die notwendige sprachliche Kompetenz verfügen. Die genau wissen, wie die Branche tickt, und die nicht nur ihr jeweiliges Fachgebiet souverän beherrschen, sondern auch verstehen, sich auszudrücken und in der richtigen Tonalität zu formulieren. Daher sollten etwa Geschäftsberichte nur von professionellen Finanzübersetzer:innen und pharmazeutische Produktpräsentationen nur von Medical Translators übernommen werden. Alles andere kann sonst böse enden.

4) Schlechte Karten für DeepL & Co: Emotionen und schöpferische Kreativität

Luthers Bibelübersetzung war nicht die erste, aber die mit dem größten Einfluss, der weit über die kirchliche Sphäre hinausging. Die Redewendungen und sprachlichen, Emotionen schaffenden Bilder, die er im stillen Kämmerlein kreierte, benutzen wir zum Teil noch heute, ohne dass uns klar ist, wo ihr Ursprung liegt. Ob Lästermaul, Schandfleck, Lückenbüßer, friedfertig, wetterwendisch, Herzenslust, Machtwort, Feuereifer, Langmut: Ohne Martin Luther sähe die deutsche Sprachlandschaft heute anders aus, nämlich wesentlich ärmer.

Was Luther damit gelungen ist, ist das Ziel aller heutigen Werbeübersetzer:innen: nämlich individuelle Texte zu kreieren – etwa Markenslogans, Anzeigenheadlines oder Copys für eine Produktkampagne –, die eine solche Breitenwirkung haben, dass sie am Ende über die eigentliche Marke hinausgehen. Formulierungen zu erschaffen, die sprachliche so präzise abgestimmt sind, dass sie hängen bleiben und die Zielgruppe berühren. Dazu braucht es auch heute noch menschliche Fähigkeiten wie Fingerspitzengefühl, Sprachkompetenz und Mut. Denn kein maschinelles Übersetzungsprogramm der Welt ist in der Lage, eine stilistische Identität aufzubauen und Emotionen zu wecken.

5) Die Zielgruppe gibt den Ton an: Transcreation und übersetzerische Freiheit

Eine der essenziellen Fragen zu Beginn einer jeder Übersetzung lautet: An welche Zielgruppe wendet sich der Text? Die Zielgruppe entscheidet nicht nur über Sprachstil, Tonalität und Wortwahl, sondern auch darüber, wie frei eine Übersetzung sein darf, das heißt, wie eng sie sich am Ausgangstext orientieren muss oder soll.

Der Zielgruppengedanke war bereits für Luther entscheidend: Ziel seiner Übersetzung war, dass das Neue Testament, das bis dahin vor allem in griechischer oder lateinischer Sprache vorlag, nun auch von den einfachen Leuten verstanden werden sollte. Dafür nahm er – schon damals nicht unumstrittene – massive Kürzungen vor, entfernte sich vom Ausgangstext und übertrug schwer verständliche Vergleiche und Bilder in die zeitgenössische Lebenswirklichkeit. „Dem Volk aufs Maul schauen“, so nannte Luther das. Seine Übersetzung ist somit ein Paradebeispiel für das Loslösen vom Ausgangstext. Dies war einer der Gründe, warum seine Übersetzungen sich in der Bevölkerung so schnell verbreiten konnten und auch kommerziell ein so großer Erfolg wurden.

Bis heute bestimmt der Ausgangstext darüber, wie groß der übersetzerische Freiraum sein darf. Während bei pharmazeutischen Beipackzetteln, DSGVO-Bestimmungen oder Geschäftsberichten höchste Akribie und Nähe zum Ausgangstext gefragt sind, setzt die Übertragung von Unternehmensslogans, Anzeigenheadlines oder Werbecopys ein Höchstmaß an transkreativen Freiheiten voraus. In heutigen Zeiten wäre Martin Luther somit der perfekte Werbeübersetzer.

6) Die Macht der Bilder: DTP, Packaging und visuelle Kommunikation

Obwohl Luther der bildlichen Darstellung von religiösen Themen zurückhaltend gegenüberstand, war ihm gleichzeitig klar, wie wichtig Bilder für den (auch kommerziellen) Erfolg seiner Übersetzung sein würden. Er versah seine Erstausgabe daher mit aufwendigen, teilweise nachträglich handkolorierten Holzschnitten. Bei späteren Ausgaben der Lutherbibel nahm der Anteil der Illustrationen weiter zu. In Verbindung mit einer hochwertigen Buchaufmachung und einem zugänglichen Satzspiegel sollten Bilder die Leser:innen neugierig machen, ihnen Orientierung geben und ihnen dabei helfen, den Text zu verstehen. Ihnen aber auch das Gefühl geben, einen „Wert“ in den Händen zu halten.

Auf die heutige Zeit übertragen entsprechen die Holzschnitte den Fotografien, Abbildungen und Grafiken innerhalb eines gelungenen InDesign-Layouts. Denn das Auge liest mehr denn je mit – der Bildanteil in unserer Kommunikation und in den Medien nimmt ständig zu, damit Informationen noch bequemer und noch schneller konsumiert werden können. Längst ist die Verpackung oft genauso wichtig wie ihr Inhalt. So waren und sind die Zeiten, damals wie heute. Und genauso wie der Bilderskeptiker Luther damals müssen sich heutige Textarbeiter:innen, die der Macht des Wortes naturgemäß immer den Vorzug geben möchten, damit abfinden.

7) Technologien im Umbruch: Digitalisierung, Internet und Medienrevolution

Der Buchdruck war zu Luthers Zeiten noch eine relativ junge Technologie. Nur durch den Buchdruck war es möglich, dass sich die Übersetzung des Neuen Testaments so stark verbreiten konnte. Die ersten 3.000 Stück waren innerhalb von wenigen Monaten vergriffen, in den folgenden 50 Jahren erreichte die Auflage die 100.000-Stück-Marke. Der Buchdruck war eine Revolution, die die gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten erheblich erweitert hat.

Nach dem Buchdruck nun das Internet: Texte werden in Sekundenschnelle übers Netz verbreitet und Daten auf Knopfdruck weltweit zugänglich gemacht. Sprachdienstleister nutzen heute ausgefeilte Technologien, wie CAT-Tools oder Translation-Management-Systeme, und haben es wesentlich leichter als in vordigitalen Zeiten, Informationen einzuholen und Texte zu bearbeiten. Auch wenn sich die Werkzeuge, mit denen Übersetzer:innen und Lektor:innen heute arbeiten, seit Luther grundlegend gewandelt haben, gilt doch nach wie vor: Expert:innen beherrschen ihr Handwerk, setzen neueste Technologien ein und müssen immer auf der Höhe der Zeit sein, um bestehen zu können.

8) Keine Übersetzung ohne Lektorat: Korrekturlesen und Schlusskontrolle

Bereits Luther wusste, wie wichtig es ist, seine Übersetzungsergebnisse von anderen Expert:innen kontrollieren zu lassen. Denn wer Texte erschafft, verliert schnell den Abstand dazu. Deshalb gab auch Luther seine Erstfassung nicht einfach in Druck oder korrigierte/redigierte sie selbst, sondern ließ sie von Gelehrten seiner Zeit begutachten und besprach sich mit ihnen.

Noch heute gilt: Ein Text oder eine Übersetzung kann noch so professionell erstellt sein – erst ein abschließendes Lektorat macht sie rund. Denn vier oder sechs Augen sehen mehr als zwei, zumal dann, wenn den Texter:innen oder Übersetzer:innen die Auftraggeber im Nacken sitzen und die Uhr tickt. Ob bei Print oder digital: Vor der Veröffentlichung sorgt immer ein abschließender Lektoratsdurchgang dafür, Rechtschreibfehler auszubügeln und nicht ganz gelungene Formulierungen zu glätten.

An diesem Punkt schließt sich der Kreis zwischen gestern und heute: Der Duden bzw. die amtliche deutsche Rechtschreibung wäre in ihrer heutigen Form ohne Luther undenkbar. Da er Substantive überwiegend großschrieb – was damals alles andere als selbstverständlich war –, geht die typisch deutsche Groß- und Kleinschreibung auf den Reformator zurück. Lektor:innen unserer Zeit werden ihm für diese bis heute beliebte Fehlerquelle auf ewig dankbar sein 😊.

9) Der Horror kommt zum Schluss: Begegnungen mit Teufeln und Dämonen

In einer besonders dunklen Stunde seiner Quarantänezeit, so ist überliefert, glaubte Luther, vom leibhaftigen Teufel persönlich aufgesucht zu werden. Luther war der Kampf mit inneren und äußeren Dämonen nicht fremd und er hatte verschiedene Strategien dagegen: Gebet, fröhliches Singen oder eben, wie in der berühmten Geschichte von der Teufelsbegegnung auf der Wartburg, beherztes Tintenfassschleudern. Manche Besucher glauben den Fleck an der Wand heute noch zu sehen …

Auch den Sprachdienstleister:innen unserer Zeit sind teuflische Situationen nur bestens bekannt. Unverständliche, unprofessionelle oder fehlerstrotzende Ausgangstexte, streikende Software, spontane Timingkürzungen, defekte Translation Memorys oder überraschende Textneufassungen (während die Arbeit an der ersten Version soeben vollendet ist): Die Dämonen im Alltag von Übersetzer:innen und Lektor:innen sind zahlreich. Wie sie mit ihnen umgehen, ist sehr individuell. Während der eine oder die andere einfach nur ein Stoßgebet gen Himmel richtet, pfeffern andere die Maus oder Tastatur durchs Zimmer. So wie Luther einstmals das Tintenfass. Dass der Teufel im Detail steckt, ist jedenfalls allen Sprachprofis bewusst und ebenso Teil ihrer Wirklichkeit, wie es für Luther seine Dämonen waren, gegen die er tapfer ansang.


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* In diesem Artikel verwenden wir die allgemein bekannten Bezeichnungen Neues und Altes Testament. Wir möchten gleichzeitig aber darauf hinweisen, dass diese Benennungen durchaus als antijudaistisch ausgelegt werden können. Daher sprechen heute immer mehr Menschen aus Respekt vom Ersten und Zweiten Testament. Wer tiefer in die Diskussion einsteigen möchte, dem oder der sei dieser Beitrag empfohlen.

Das ist wieder ein Beispiel dafür, dass es sich lohnt, Lektor:innen zu haben, die stets mit dem Ohr am Puls der Zeit sind. Falls auch Sie mal besonders aufmerksame Augen für Ihre Sprachprojekte brauchen, freuen wir uns über Ihren Anruf.