Was für uns heutzutage selbstverständlich ist, gibt es noch gar nicht so lange: Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde erstmals eine für das gesamte deutsche Sprachgebiet allgemeingültige Orthografie festgelegt. Kaum vorstellbar, was bis dahin für ein Durcheinander von Schreibregelungen herrschte – nicht nur in den verschiedenen deutschen Ländern wurde unterschiedlich geschrieben, sondern auch in Schulen und Behörden galten verschiedene Regeln. Festgehalten und verbreitet wurde die neue Rechtschreibung in der Duden-Ausgabe von 1902, also vor genau 120 Jahren. Wenn das mal kein Grund für eine kleine Zeitreise ist!

Der lange Weg zur orthografischen Einheit

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte unserer allgemeingültigen Rechtschreibung ist die II. Orthographische Konferenz von 1901. Moment – die zweite Konferenz? Richtig, denn schon 1876 fand die I. Orthographische Konferenz statt, deren Ziel es war, im neu gegründeten Deutschen Reich eine einheitliche Rechtschreibung zu etablieren und mit dem Wildwuchs der bisherigen Einzelstaaten-Orthografie ein für alle Mal Schluss zu machen. Bis dahin herrschte im deutschen Sprachraum ein wahres Chaos an Rechtschreibungen, die teilweise noch durch die regionalen Dialekte und Mundarten bestimmt waren. Die Änderungsvorschläge dieser ersten Konferenz wurden jedoch von den Vertretern einzelner Länder abgelehnt, die Konferenz galt als gescheitert.

In den Folgejahren brachten die Länder dann immerhin eigene Regelwerke heraus. Bayern machte 1879 den Anfang, gefolgt von Österreich und Preußen. Die „Preußische Schulorthographie“ wurde dann 1880 zur Grundlage des Wörterbuchs mit dem eingängigen Titel „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache – Nach den neuen preußischen und bayrischen Regeln“ von Konrad Duden, die heute als 1. Auflage des Dudens (1880) gilt.

Der Duden wurde zwar gut aufgenommen und verbreitete sich im Laufe der nächsten Jahre vor allem an den Schulen, aber von einer echten Vereinheitlichung der deutschen Schriftsprache war man noch weit entfernt. Wenn es um Schreibregeln ging, konnten die Kinder damals durchaus den Eindruck gewinnen, nicht fürs Leben, sondern nur für die Schule zu lernen 😉. So klagt Konrad Duden noch im Vorwort der 6. Auflage (1900) über den „unerträglichen Überstand, dass die jungen Leute die Rechtschreibung, die sie in der Schule haben lernen müssen, nicht anwenden dürfen, wenn sie in den Staatsdienst treten“. Unser ganz persönliches Mitgefühl gilt aber auch den armen Lektorinnen und Lektoren, die sich in jenen harten Zeiten mit einer Vielzahl an individuellen Regelwerken herumplagen mussten.

Erst 1901 kam der Durchbruch

Nach unzähligen Verhandlungen und Beratungen zwischen den Regierungen wurde 1901 ein weitere Anlauf gestartet. Vom 17. bis 19. Juni fand in Berlin die besagte II. Orthographische Konferenz statt: 26 Bevollmächtigte der deutschen Länder sowie Vertreter aus dem Buchgewerbe, darunter auch Konrad Duden, traten abermals zusammen und nahmen das Projekt einheitliche Rechtschreibung ein weiteres Mal in Angriff. Und diesmal waren sie erfolgreich: Es wurde ein verbindliches Regelwerk beschlossen – die sogenannte neue Rechtschreibung. Sie fand ab 1902 durch die 7. Auflage des Dudens Verbreitung, der folgerichtig auch mit unüberhörbarem Jubel einsetzt:

„Die Regierungen haben nämlich auf Grund der Beschlüsse der Orthographischen Konferenz (…) wirklich und wahrhaftig eine einheitliche Rechtschreibung für das ganze Deutsche Reich geschaffen. Geschwunden ist nicht nur der Zwiespalt zwischen Schule und Amt (…), sondern geschwunden sind auch die Eigentümlichkeiten, durch die sich bisher noch die Schulorthographien der einzelnen Staaten voneinander unterschieden.“

Die Bedeutung dieser Konferenz ist in der Tat enorm, denn sie führte nicht nur innerhalb des Deutschen Reichs zu einheitlichen Rechtschreibregeln, sondern innerhalb des gesamten deutschen Sprachgebiets – von Österreich und der Schweiz bis hin zu den „Kreisen der Deutschen in Amerika, ganz besonders in den deutschen Schulen Nordamerikas“. Textschaffende der deutschen Sprache hatten damit weltweit endlich eine verbindliche Grundlage.

Die Beschlüsse der II. Orthographischen Konferenz
  • Einschränkung der Verwendung von h als Dehnungslaut (heute zum Beispiel bei ohne oder mehr)
  • Abschaffung des h, wenn es auf ein t folgt (Fun Fact: Da diese Regelung dem deutschen Kaiser Wilhelm II. missfiel, blieb das th bei  „erhabenen Dingen“ erhalten. Daher sitzt der Kaiser auch in heutigen Geschichtsbüchern auf einem Thron, und wir gehen ins Theater.)
  • Worttrennungen bei pf und dt waren nun bei jedem Wort erlaubt. Vorher waren sie das nur, wenn ihnen ein Vokal voranging. (Bei st blieb das Trennen allerdings noch eine ganze Weile verboten. Der hübsche Merksatz „Trenne nie st, denn es tut ihm weh“ 😊 wurde erst mit der Rechtschreibreform von 1996 überflüssig. Seitdem trennt man zum Beispiel lus-tig – statt wie vorher lu-stig.)
  • Konsequente Eingliederung von Fremdwörtern in die deutsche Sprache, für die es vorher wenigstens zwei, manchmal auch drei Schreibweisen gab (aus Redacteur wurde endgültig Redakteur, Litteratur wurde zu Literatur).
  • Fremdwörter wie addieren oder regieren sollten fortan mit -ieren geschrieben werden (zuvor war auch die Schreibweise –iren möglich).
  • In vielen Fällen blieben verschiedene Schreibweisen möglich, etwa Brennessel und Brennnessel, Britte und Brite, Rote Beete und Rote Bete. Bei bestimmten Wörtern gab es auch nur im Plural zwei Schreibweisen (Monarchien und Monarchieen). 1915 wurde die Zulassung mehrerer Schreibungen durch den Buchdruckerduden aber noch einmal eingeschränkt (und 1996 wieder aufgeweicht …)
  • Bemerkenswert ist, dass keine Regeln zur Interpunktion beschlossen wurden. Diese gelangten erst später in den Duden, oft in Sonderausgaben.
  • Die Verwendung des sogenannten langen s (wie in Buchſtabe) wurde eingeschränkt.

Das alles und noch viel mehr fand sich also in der berühmten 7. Auflage des Dudens, die vor ziemlich genau 120 Jahren erschienen ist, im Januar 1902. Mit ihrem Umfang von mageren 388 Seiten sieht sie im Vergleich zu den 1.294 Seiten, die die aktuelle 28. Duden-Auflage (2020) umfasst, eher wie ein zartes Pflänzchen aus. Aber dafür hatte sie einen schönen Leinwandumschlag und kostete nur 1 Mark und 64 Pfennig 😊.

Aber schöner Leinwandumschlag hin oder her, wir ziehen bei unserer Arbeit immer den gerade aktuellen Duden zurate. Falls Sie mal Bedarf an deutschem Lektorat haben sollten, nehmen Sie einfach Kontakt mit uns auf.